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Aus einer Nacht (German Writing)

Aus einer Nacht
(Stadtgeschichten)
[German Writing]
Woran denkst Du?
"Was siehst Du?". "Leben, die ich niemals leben werde."
[2017/06/13]

In letzter Zeit fühle ich mich, als hätte es mich auf das Meer hinausgetrieben. In nichts und niemanden um mich herum finde ich Halt, kommt mir doch alles dumpf und fern vor. Vielleicht so, als sei weit und breit kein Land mehr in Sicht; und wie ich überhaupt hierhergekommen bin, weiß ich schon dreimal nicht. Vor allem aber habe ich Angst, Angst davor nach unten zu sehen, so als würde es mich nicht länger tragen, wenn ich erst die Gewissheit hätte, dass da wirklich nichts mehr unter mir ist. Aber eigentlich bin ich mir gar nicht sicher, ob das wirklich schlimmer wäre. Seit ich denken kann, habe ich das Meer geliebt aber nie gedacht, dass es auch mein Ende sein könnte. Seit Tagen ist das nun so; und mir geht der Gedanke an Flutwellen nicht mehr aus dem Kopf. Sie, die, wenn sie erst einmal auf Land treffen, unaufhaltsam auf ihrer Reise ins Landesinnere alles mitnehmen, das zuvor nicht niet- und nagelfest vertäut wurde. Dass all dem Wasser vielleicht nur aus einem Anflug von Heimweh, der plötzlichen Einsicht geschuldet gar nicht hierherzugehören, irgendwo fern des Meeres die Kraft schwindet. Heimweh, das zu einem Sog wird, nicht selten verheerender als alles Vorangegangene. Ich muss daran denken, weil ich glaube, dass es mit manchen Menschen, denen wir in unserem Leben begegnen, nicht anders ist. Fortgetragen werden wir, gleich, ob wir es wollen, in einem Anflug von Schwäche oder Wagemut einfach nur zulassen oder, was vielleicht am schlimmsten ist, schlicht gar nicht anders können. Erst trägt es uns, fast schwerelos, doch dann, scheinbar auf halber Strecke, folgt unerwartet der Stillstand. Wir halten inne, sehen und erkennen um uns herum nichts mehr wieder, manchmal nicht einmal uns selbst. Wasser gelingt, über kurz oder lang, immer die Reise zurück ins Meer; unsere Heimkehr gestaltet sich aber als schwieriger. Unrat gleich, egal ob verstreut im Landesinneren oder doch aufs Meer hinausgetragen, fühlt es sich jetzt danach an, als würden wir ruhelos umhertreiben. Um uns herum lauter Häfen, die längst keine mehr sind, vielleicht niemals welche waren. Häfen ohne Namen, die nicht einmal auf einer Karte verzeichnet sind. Spurlos verschwunden, so als wäre es nie gewesen, ist vor allem aber das, was uns einst mitgezogen hatte. Übrig bleibt nur die Sehnsucht. Sehnsucht, von jemandem gefunden, herausgefischt und an einen Ort gebracht zu werden. Irgendein Ort, der vielleicht einmal wieder Zuhause sein kann. So ist mir das mit Dir ergangen, als Du plötzlich nicht mehr da warst. Eigentlich ist es noch immer so.

In der Novemberkälte spaziere ich nachts alleine durch Häuserschluchten. Zwischen Platanen, dem ein oder anderen längst geschlossenen Geschäft und eilig zurückgelassenen Fahrrädern, liegen links und rechts die Fenster jener, die hier zuhause sind. Darin, hier und da, das Flackern der Fernsehgeräte, grelles Küchenlicht oder gedämpftes Licht aus einem der Bäder. Dort oben, im dritten Stock zur Linken, Licht, das eilig von Raum zu Raum wandert. Vielleicht einer, der gerade erst nach Hause gekommen ist, sich erschöpft und mit letzter Kraft nach einem viel zu langen Tag vom Flur bis hin zum Schlafzimmer trägt. Vielleicht ist es auch das Licht der Streitenden. Die, die sich anbrüllen, der eine längst Tränen in den Augen, unklar, ob vor Wut, Schmerz, Unverständnis oder allem zusammen, und die dabei durch die Wohnung, von Zimmer zu Flur und wieder zurück, streifen, ohne je an ein Ziel zu gelangen. Schließlich zieht sich ein jeder stumm zurück, will im Dunkeln vor sich selbst und dem anderen in den Schlaf fliehen. Doch ausgerechnet jetzt, wenn die Lichter aus und die Worte verstummt sind, müssen sie begreifen, dass an Schlaf unmöglich zu denken ist. Vielleicht wird sich auch ein wenig später versöhnt; zumindest dann, wenn aus den Gräben der Wochen und Monate noch keine Schluchten entstanden sind. Vielleicht werden sich auch, unbeirrt und längst bar jeder Vernunft, immer weiter Worte an den Kopf geworfen, die man sich im Inneren schon selbst unzählige Male sagte, noch dazu unbarmherziger, als es ein anderer könnte. Trotzdem folgt die Einsicht, dass sich nun, wo sie von einem anderen einmal laut ausgesprochen wurden, zwar kurzzeitig ein Gefühl der Erlösung, der endlich erlangten Gewissheit wegen, einstellen mag, schon in der nächsten Sekunde aber alles doppelt so schwer im Magen liegt. Im Stockwerk darüber, das Zimmer eines Einsamen. Einer, der all das vielleicht bereits hinter sich oder nie kennengelernt hat. Was davon schwerer wiegen könnte, ist unmöglich zu sagen. Weder er, noch ein anderer, kann das wissen, fehlt doch immerzu der Vergleich. Er, der nun still auf seinem Bett liegt, sich nicht länger zu bewegen vermag und über Stunden mit traurigen Augen dem wandernden Licht an seiner Zimmerdecke folgt. All das, wie ich hier gehe, in mir, und hinter den Fenstern, durch die heute Nacht sonst keiner sieht. Und auch an mir zieht es vorüber, ohne dass ich es wirklich sehen könnte. Nur ahnen, und damit ist es genau genommen ebenso wahr, wie alles andere auch. Selbst Details sind letzten Endes, fürchte ich heute, nur beliebig, nichts als ewige Wiederholung. Doch irgendwo darin musst auch Du sein. Das Lächeln des Tages längst vergessen, stattdessen nur die Frage, wohin mit all dem Gefühl, das außer Dir niemand zu kennen scheint. Zu viel davon, nicht zu wenig. Zu viel Gefühl, für einen einzelnen Menschen. Aber wie sollten wir auch nach dem, von dem wir nichts wissen, vielleicht gar nicht wissen können, fragen? Und, was viel schlimmer erscheint, auch so oft gar nicht wissen sollen. "Woran Denkst Du", müssten wir einander wohl unentwegt und immerzu fragen, dürften nicht einmal damit aufhören, wenn wir lieber schweigen, und uns nichts mehr sagen und fragen würden. Gerade dann nicht. Wem also schreibst und erzählst Du, wenn Du nachts nicht schlafen kannst; und auch tags niemanden kennst?

Am Heimatmuseum gehe ich vorüber, sehe einen Bus, der dort einsam und etwas verloren wartet. Auf Fahrgäste, vielleicht aber auch nur das Verstreichen der Zeit, der Schicht oder dem Leben selbst. Busfahrer, die Nacht für Nacht andere umherfahren, manchmal auch ganz alleine. Leerfahrten, die ungewollt und ganz und gar überflüssig sind. Ein Bus, mit dem sonst keiner fahren will. Meist aber öffnen sich die Türen, der Lärm schwillt an, fernes Lachen, Gegröle, auch ein leises Schluchzen. Ein Teil davon wandert hinein, verlagert sich schwankenden Schrittes nach hinten, die Türen schließen sich. Die Wortfetzen werden vage, ein undurchdringliches Gemurmel, das schließlich zwischen dem Motorengeräusch und einer vorbeieilenden Sirene verschwindet. Kurz darauf, dasselbe Spiel. Geräusch wird ausgespuckt, zwischen Häuser und in enge Gassen hinein, gesellt sich zu anderem Geräusch hinzu, vermischt sich, wird eines, und damit längst nur noch Kulisse statt Schauspiel. Der Bus dagegen bleibt nun wieder leer, und seltsam stumm zurück. Vielleicht für eine, manchmal zahlreiche Straßen und Viertel dieser Stadt. Ich selbst aber daran vorbei, will kein Fahrgast heute sein. Fast eilig über die Eiserne Brücke, Stadtlichter im Hintergrund, zwei Schwäne im Wasser darunter. Endlich, ein Aufatmen, weniger der Lunge, als meiner Seele. Kein reges Treiben mehr, kein Kindergebrüll oder Hundegebell das, so könnte ich an manchen Tagen meinen, wenn auch lautlos, noch immer hinter Bäumen und unter Parkbänken hängen und mich verfolgen würde. Hier im Park, die Nacht jetzt still und kalt auf meiner Haut. Zu meinen Füßen das Knirschen des Schnees, gleichbleibend und doch mit jedem Schritt ein kleines bisschen anders. Dazwischen, schwarzes Geäst vor Nachthimmel. In den Wipfeln, eine Nachteule, die einsam ruft und nach dem Gestern fragt. Gestern, alles voll von Dir. Voller Worte, die eben ausgesprochen schon unweigerlich dem Früher angehörten, es vielleicht sogar nur noch stärker zementierten. Andere, die nicht gesagt, nur gedacht werden, und wohl auch nichts daran ändern konnten, dass gerade etwas erloschen war, davonglitt wie ein Traum am frühen Morgen. Ein Vorhang fällt, ein anderer geht auf. Selbst dann, wenn es dahinter nur noch dunkler ist. "Der Bühnenbildner hat das Bühnenlicht vergessen", sage ich zu ihr, der Eule. Und da fliegt sie davon, in den Nachthimmel, weiß sie nun doch, dass auch ich keine Antworten habe. Vielleicht, und das wenigstens zu meiner Verteidigung, weil es auf diese Frage keine geben kann.

Am Wehr angekommen, das Wasser unter mir schwarz und träge, kein Tosen heute. Fragt nichts, sagt nichts. Stattdessen Schlieren darin im Licht der Straßenlaternen. Dazwischen wie darüber, kleine Wolken, die mein Atem in die Nachtluft hineinwirft. Dazu Schneeflocken, die der Himmel fallen lässt, hier zu mir herunter, scheinbar nur für mich in den Lichtsäulen umherwirbeln lässt. Für einen Moment schwebend, wartend, worauf nur, um kurz darauf doch von Dunkelheit oder Fluss, vielleicht eines wie das andere, verschluckt zu werden. In wenigen Tagen dann Eisschollen, die hier herangetrieben werden. Sie, die sich im weit aufgestauten Wasser darüber unbemerkt in einsamen Nächten gebildet, stetig an Form und Größe gewonnen und schließlich auf den Weg gemacht haben. Wo sie entstanden sind, bleibt ihr Geheimnis, aber ich stelle mir vor, dass es einen Ort gibt, an dem das geschieht, bis sie davonziehen, einfach, weil dann die Zeit dafür gekommen ist. Sie, die nun, ganz wie die großen Schiffe, die hier manchmal tief brummend vorüberkommen, flussabwärts treiben, fernen Städten und Meeren entgegen. Geladen haben sie weder Kies noch sonstige Fracht, nur konservierte Zeit und Kälte. Aufstauen werden sie sich, ein ungewohnt seltsames Klirren wird ihr Aufeinandertreffen, das Vorbei- und Aneinanderreiben, in die stille Nacht hineinwerfen. Selten sind die Winter hier dafür kalt genug. Der Druck wird steigen, an vorderster Stelle werden sie übereinandergeschoben, einer unbeholfenen Rangelei gleich, bis nach kurzem Zögern, begleitet von einem neidvollen Raunen der anderen, die ersten über die Kante hinweg im Dunkeln verschwinden. Für ein, zwei Sekunden freier Fall, dann das Eintauchen im schäumenden Wasser dahinter. Nun, vielleicht endlich, die Weiterreise, an deren Ende doch nur das Nichts, das Sich-leise-selbst-Auflösens steht, gar nichts anderes warten kann. Inmitten dessen dann auch Du; auch wenn ich heute nichts davon wissen kann. Weder von Kälte und Eis der kommenden Tage, noch Dir, und Deinem Dahintreiben. Still und ohne große Worte "ins Wasser gegangen", wie sie, die Leute, zu sagen pflegen, schon immer zu sagen pflegten. Als wärst Du nur kurz auf einen Spaziergang vor die Türe getreten, vielleicht einen Bekannten besuchen oder eine Zigarette rauchen gegangen. Kein Wort, kein Gefühl mehr auf Deinen Lippen. Dein Gesicht, und all das darauf und auch dahinter, fortgewaschen. Davongetragen vom Wasser, dem Puls, der Kälte. Nur wohin, wohin eigentlich? Am Ende also nun doch aufgenommen zwischen denen, die ebenso keine Fragen stellen. Auch wenn sie, so vermute ich zumindest, gar nicht anders können. Und vielleicht, vielleicht ist das auch gut so, ist es doch nicht selten das, wonach wir suchten. Unbeirrt voran, erst am Strandbad und dem Ruderclub vorüber, dann unter großen Eisenbahnbrücken hindurch, legst Du schließlich hier an, ganz wie sie, einem Hafen gleich. Ein kurzer Halt, eine Zwischenstation Wartender, auf dass man Euch hinüberlassen möge. Und während dort unten gewartet wird, darüber ein Radfahrer, die Räder schlingernd, schwere Taschen voll gesammelter oder vielleicht doch selbst getrunkener Bierflaschen am Lenker. Dann, in einem ruhigen Moment, eine streunende Katze, die sich eilig und eng an der Mauer gedrückt entlang des Weges über das Wehr stiehlt. Vielleicht in einer dieser Nächte auch ich selbst, der ich dann, ob nun bewusst oder unbewusst, nach Dir suchen werde. Innehalten werde ich, das Klirren des Eises hören und mir wünschen, dass Du es jetzt auch wahrnimmst, am liebsten sogar zusammen mit mir hier anhören könntest. Ich also meinen ganz Mut zusammennehme, Dich anrufe und es lange klingeln lasse, doch vergeblich und schließlich, nach einem langen Seufzer, weiter in Richtung der Altstadt gehe. Wenn ich davon gewusst hätte, vielleicht wäre ich dann länger hier gestanden, hätte angestrengt flussaufwärts ins Dunkle gestarrt, darin nach Dir gesucht, vielleicht sogar gehofft, Dich wenigstes hier noch einmal zu sehen, inmitten der Eisschollen, die wir doch beide immer so mochten. Auf dass ich Dich darin fände, still umhertreibend, wie Du es im Sommer, wenn wir zusammen am See schwimmen waren, manchmal reglos vor mir im Wasser tatst, kein Laut Deine Lippen verließ und auch nicht so recht wusste, was ich nun sagen könnte, oder wollte. Ich, der ich dann stattdessen einfach ebenso schwieg, Dich nur ganz genau ansah, mit meinen Armen vorsichtig rudernd um nur keine Wellen zu verursachen und mich dabei vielleicht ein wenig in Dich verliebte. Nur dass Du jetzt, wenn ich Dich gesehen hätte, nicht plötzlich prustend tief Luft geholt und die Stille über dem See und hinter meinen Augen mit einem Deiner Lächeln vertrieben hättest. Deinem Lächeln, bei dem ich mich immer gefragt hatte, was nicht mit Dir stimmt, dass Du Dir ausgerechnet mich dafür ausgesucht hast. Stattdessen aber nur mein Blick, der langsam im Dunkeln versinkt, vollläuft von all dem Wasser und nichts mehr halten will. Mich selbst nicht, und die Nacht ebenso wenig. Ob ich hier still geweint hätte? Um Dich, uns, und vielleicht auch um mich selbst? Weil ich hier nun alleine zurückbleibe, inmitten der anderen, während Du nun reist, wo uns doch genau das, eine gemeinsame Reise, immer versagt geblieben ist? In den Norden hatten wir doch wollen, nicht den Süden, würde ich dann am liebsten rufen. In den Norden, wo es so schön kalt und immer Winter ist.

Wenig später sitze ich in der Haltestelle vor dem alten Theater. Den Kopf tief in der Kapuze vergraben, lehne ich mich darin zurück, die Kälte greift über und breitet sich langsam in mir aus. Mein Blick fällt aus mir heraus, auf fremde Gestalten, die sich im Laternenlicht schemenhaft nach und nach um mich gesellen. Sie, die nahezu unerträglich heiter von ihrem Theaterbesuch, einer Kneipe oder einem der nahen Restaurants kommen und nun hier, scheinbar ebenso, mit mir auf den Bus warten. Nur dass ich es eigentlich gar nicht tue, mir vielmehr wünschte, er käme nie hier an, der Bus, oder überhaupt irgendeiner der Busse. Ich wünschte mir, die Route wäre still und heimlich verlegt worden, die Station längst eine der Vergessenen sein. Auf dass ich einfach für immer so hier sitzen könnte, keinen Schritt mehr vor den anderen setzen, schon gar nicht nach Hause müsste. Nach Hause, in diese Wohnung, in der Du fehlst. Fehlst, als würde einer der Einrichtungsgegenstände fehlen, das Feng-Shui nicht mehr stimmen, auch gar nicht stimmen können, weil doch rein gar nichts zu viel oder von allem zu wenig ist, sondern eigentlich gar nichts mehr darin zu stehen scheint. Gar nichts, außer einem, der Leere. Und die kann man, ganz egal wie sehr man es auch versuchen mag, weder hier, noch dorthin stellen. Selbst sehen kann man sie nicht; allenfalls als Abwesenheit alles anderen. Und überhaupt, frage ich mich jetzt, wenn Du Leere hinterlassen hast, wo war sie dann, als Du noch hier bei mir warst, wir in stiller Vertrautheit, ein jeder in seine Arbeit vertieft, Abend für Abend an unserem kleinen Küchentisch beisammensaßen, uns nur dann und wann einen kurzen Blick zuwarfen? Hat sie sich versteckt, in einer der Küchenschubladen, der Speis oder gar unten im Keller? Oder war sie ausgeflogen, zu einem anderen, der gerade verlassen worden war, als wir zusammenfanden? Hatte sie nur darauf gewartet, dass Du gehst, mich verlässt, um endlich wieder hervorzukriechen und mit einem schrecklich selbstgerechten Grinsen im Gesicht zu sagen, dass sie das von Anfang an gewusst und mir ja gleich gesagt hätte? Aber gar nichts hatte sie gesagt, gar nichts. Und überhaupt, was weiß sie schon. Mit Musik in den Ohren, sitze ich noch immer verloren hier, erst nimmt der elfer, dann der vierer Bus achtlos seinen immergleichen Teil der Gestalten, scheinbar die Langeweile der ganzen Welt, um mich herum auf und ich muss daran denken, was wir uns gestern Abend alles gesagt und vorgeworfen haben. Geschrien habe ich schließlich, als Du längst nur noch geschwiegen hast. Mein ganzes Leben lang habe ich noch nie jemanden angeschrien, nie war mir einer wichtig genug. Bin immer nur zum Schreien in den Wald gegangen, wie ich das schon von meinen Eltern gelernt hatte. Und das galt vielleicht den Bäumen, mir selbst oder der ganzen Welt, aber doch nicht und niemals Dir. Weil Welt und Du, das waren doch immer zwei verschiedene Geschichten. Ich dachte immer dieses Gefühl, dass zwei Menschen einander ohnehin niemals verstehen können, läge an der Musik.  Vielleicht kein Wunder, bei Max Richter und solchen einsamen Winternächten. Doch wenn ich dann an uns beide denke, fürchte ich, es ist keine Frage von dem, was wir hören; und auch nicht von dem, was wir sagen. Vielleicht ist es wie das Eis. Dass wir uns ein Stück des Weges gemeinsam treiben lassen, uns vielleicht vereinzelt erzählen und berühren und das, was wir dabei fühlen, das alles zusammen, das sind dann Du und Ich. Und ehrlich gesagt ist das mehr, als ich mir früher hatte erträumen können.

Auch wenn wir uns nicht immer verstehen können, manchmal nur jedes weitere Wort eines zu viel ist, ist mir selbst unser aufgeregtes Türenschlagen, der verwaiste Flur als Niemandsland und das ewig vergessene Küchenlicht hundertmal lieber, als hier so allein und fern von Dir in der Nacht zu sein. Und wenn jetzt wenigstens die Nachteule noch hier bei mir wäre, würde ich ihr antworten, dass wir schlicht wegen des Schauspiels für die Einsamen miteinander gestritten hatten, vergisst doch ein jeder manchmal, dass es im Leben auch einmal in Ordnung ist, nur Kulisse zu sein. Für die Welt, aber auch uns beide. Und wenn es einen Grund gibt, nun aufzustehen und in einen der Busse einzusteigen, dann wohl den, dass ich Dich suchen und Dir das alles sagen will. Wenn Du dann vor mir stehst, versuche ich vielleicht auch einfach einmal so ein Lächeln, das die Stille zu vertreiben weiß.

2021/03/04, in Erinnerung an 2016/17
Aus einer Nacht (German Writing)
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